Das Schauspiel beginnt pünktlich um 17.36 Uhr.
Bis dahin war alles glatt gelaufen. Mehr oder weniger. Die Bahn hatte sich entschlossen, ausgerechnet heute ihr Schienennetz zu modernisieren. Deshalb fährt die S9 erst ab Ostkreuz. Wenn man’s weiss kein Problem. Wir wussten es nicht.
Also auf zum Ostkreuz. Dort jede Menge Gestalten in seltsamen Gewändern. Hertha BSC hat wohl verloren. Das macht die Stimmung nicht besser. Auf dem Bahnsteig herrscht nervöses Hufe-Scharren. Bierflaschen gehen zu Bruch. Touristen mit containerartigen Koffern zwischen gröhlenden Fussballfans. An den rostigen Eisenträgern lehnen 14jährige Nachwuchsgangster. Sie tragen weiße Jogginganzüge mit hellblauen Streifen. Mein Schlafanzug anno ’78 sah ähnlich aus. Wie habe ich ihn gehasst! Endlich die Bahn. Leider wollen alle anderen auch mitfahren. Tatjana ergattert einen Sitzplatz und lässt sich erschöpft auf die fleckige Bank fallen. Neben ihr sitzt ein VoKuHiLa (Vorne-Kurz-Hinten-Lang-Frisur, Anm. des Autors) in Cowboystiefeln. Er starrt konzentiert in ihren Ausschnitt. Bestimmt denkt er nachher an sie, in seinem Zimmer, oben bei Mutti. Ich stehe an der Tür, eine Hand in der Halteschlaufe. Der Zug fährt rumpelnd an, die Menge schwankt. Mein Koffer macht sich selbständig und rollt durch den Gang. Ich hinterher. Du machst dir keine Freunde, wenn dein amoklaufender Zwanzig-Kilo-Hartschalen-Koffer zig Schienbeine poliert.
Hinter Baumschulenweg wird es dann leerer. Und deutlich ruhiger. Fast nur noch Reisende mit Ziel Schönefeld.
Wir sitzen an Gate 22. Rundherum heimatliche Klänge. Eine schwäbische Oase im märkischen Sand. Auch ohne einen Blick auf den Flatscreen über dem Schalter ist klar, dass dies der Flug nach Stuttgart sein muss. Boarding ist für 17.45 Uhr angesetzt. Ein Ehepaar Ende 50 sitzt uns gegenüber. Beide gekleidet in Goretex-Jacken und beigefarbenen Hosen mit unzähligen Taschen. Dazu feste Treckingstiefel. Sie isst eine Banane während er die mitgebrachte ADAC-Strassenkarte studiert. Neben ihr steht ein Rucksack, aus dem eine 1,5 Liter Flasche Apfelschorle von Aldi-Süd ragt. Sie hält den Träger des Rücksacks fest umklammert. Am Rucksack baumelt ein pizzateller-grosser Adressanhänger. Eugen und Gerlinde Pfefferle aus Albstadt-Tailfingen. Falls wir in den Weiten der kasachischen Steppe notlanden müssen – die beiden sind vorbereitet.
17.36 Uhr. Es geht los. Ich lehne mich zurück und geniesse. Mit geübtem Griff zieht Eugen zwei Flugticket aus seinem Brustbeutel und schreitet mit konzentriertem Blick Richtung Abflugschalter und stellt sich dort an. Erster! Ein triumphierenes Lächeln umspielt seine Lippen. Es ist kein Gate-Agent zu sehen. Keine freundliche Mitarbeiterin von der Fluggesellschaft verkündet „Meine Damen und Herren, unsere Flug 4U 2005 ist nun zum Einsteigen bereit“. Keine Durchsage. Die Anzeigetrafel verkündet das Boarding stur für 17.45 Uhr.
17.37 Uhr. Eine plötzliche Unruhe erfasst die wartende Menge. Rucksäcke werden gepackt, Jacken rasch übergeworfen. Mütter rufen ungeduldig nach Ihren Kindern. „Sara-Sophiiie! Lukas-Leoooon! Kommet schnell, m’r flieget hoim!“.
Innerhalb von zwei Minuten hat sich eine 30 Meter lange Schlage gebildet. Wieder wird gedrängelt und geschubst.
Dann passiert nichts mehr. Nur einige Wenige sind auf ihren Plätzen geblieben und betrachten stirnrunzelnd die Szenerie.
17.53 Uhr. Leises Getuschel in der Schlage. „Jetzt könnt’s aber mal losgehen“. Tatjana sitzt neben mir und blättert zum hundertsten Mal durch ihre „Glamour“. Die 30 stylishsten Outfits für ihr Spa-Weekend. Alles klar. Ich kann Konrad Duden förmlich sehen, wie er in seinem Grab rotiert.
Dann geschieht es. Der Flatscreen geht aus. Es erscheint ein Windows-Bildschirmschoner. Eugen starrt fassungslos auf das bunte Logo. Das Gemurmel im Hintergrund schwillt zum Orkan. Alle reden gleichzeitig und gestikulieren wild durcheinander.
Tatjana blickt von ihrer Zeitschrift auf. „Was’n los?“. Ich zucke nur kurz mit den Schultern. Meine Augen bleiben an der Warteschlange haften. Eugen dreht sich um blickt sich hilfesuchend nach Gerlinde um, kann sie aber nicht entdecken. Er wirkt verwirrt. Da taucht plötzlich ein Flughafenmitarbeiter in orangefarbener Uniform auf. Alle Blicke wenden sich ihm erwartungsvoll zu. Atemlose Stille. Er öffnet den Restmüllbehälter einige Meter neben mir, nimmt den schwarzen Müllsack heraus und geht weiter. Ein Raunen geht durch die Menge. Ich beobachte Eugen. Er wirkt wie ein Dreijähriger, der seine Mutter sucht. Sein Blick ist fahrig, er nestelt nervös an seinem Brustbeutel. Dann endlich. Die Tür der Damentoilette öffnet sich und Gerlinde kommt heraus. Sie trocknet sich die Hände an ihrem mitgebrachten Taschentuch ab. Sie hebt ihre Hand und zeigt nach vorn. Eugen dreht sich um. Der Flatscreen flackert, am Gate stehen zwei Frauen in Germanwings-Uniform. Die Menge scharrt mit den Hufen. Es geht los.
Zeitsprung. Wir sitzen im Flugzeug. Völlig überraschend durften alle Wartenden mitfliegen. Auch die, die nicht gedrängelt haben. Jeder hat einen Sitzplatz bekommen. Wir heben pünktlich auf die Minute ab. Hinter uns sitzen Eugen und Gerlinde und packen Ihre Butterbrote aus. Tatjana ist happy. Sie hat ein „Woman“-Magazin ergattert. 20 Must-have Teile für It-Girls. Ich schaue in ihren Ausschnitt. Nur Fliegen ist schöner.