Als ich die Augen aufschlug war es bereits dunkel. Ich musste mehrere Stunden geschlafen haben, denn durch die Löcher, die der Rost in die Wellblechwände gefressen hatte, konnte ich schon die Sterne funkeln sehen.
In der Ferne war das Rauschen der Wellen zu hören. Der Wind schien nachgelassen zu haben. Das war gut. Ich steckte mich, rieb mir die Augen und sah mich um. Ich war ein einer kleinen Hütte. Um mich herum lagen etwa 50 Personen. Menschenfracht. Eingehüllt in schmutzige Decken versuchten sie der empfindlichen Kälte einer wolkenlosen Nacht zu widerstehen. Eine junge Mutter versuchte im Flüsterton ihr schreiendes Baby zu beruhigen. Sonst sprach niemand ein Wort. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. Ich war todmüde. Die lange Reise steckte mir in den Knochen. Ich war seit knapp zehn Tagen unterwegs, habe in Ställen, in Abbruchhäusern und unter freiem Himmel geschlafen. Ich habe alle hinter mir gelassen. Nun war ich also hier. Und habe doch bisher noch rein gar nichts erreicht. Ich wollte gerade aufstehen, um meine verspannten Muskeln etwas zu lockern als plötzlich die Tür aufflog. „Raus! Raus!“ bellte eine kehlige Stimme. Es ging also los. (Gute Reise).
Das Meer war bei Weitem nicht so ruhig, wie es vom Ufer aus den Anschein hatte. Jede Welle hob unser winziges Boot um zwei, drei Meter in die Höhe. Mir wurde schon nach wenigen Minuten schlecht und ich schloss die Augen, um der Seekrankheit Herr zu werden. Es gelang mir nicht. Ich musste mich auf den Boden übergeben. Wir saßen eng zusammengepfercht im stockdunklen Bauch dieses schrottreifen Seelenverkäufers und lauschten ängstlich in die Dunkelheit. Das Ächzen und Knarren der Planken vermischte sich mit dem Dröhnen des alten Dieselmotors zu einem gleichmäßigen, eintönigen Singsang. Über uns an Deck waren gelegentlich Schritte und Stimmen zu hören. Ich versuchte mir aus den aufgeschnappten Satzfetzen unsere aktuelle Lage zusammenzureimen, aber es gelang mir nicht. Immer wieder überkam mich eine Woge der Übelkeit, die mich aus allen Gedanken riss. Ich würgte einen Schwall bitterer Galle nach oben und spuckte aus. Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Ich hatte seit Tagen nichts mehr gegessen. Meine Schläfen pochten wie wild, mein Herz raste. Ich versuchte ruhig zu atmen und die Übelkeit in Zaum zu halten als plötzlich ein lauter Knall den monotonen Geräuschteppich zerriss und mir den Schrecken in alle Glieder fahren ließ. Adrenalin schoss in meine Adern. Instinktiv duckten sich alle und rückten noch enger zusammen. Ich riss die Augen weit auf und versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Ohne Erfolg. „Die schießen auf uns!“ schrie eine panische Stimme. „Die Schweine schießen auf uns!“. Wie zur Bestätigung peitschten mehrere Geschosse an unserem Boot vorbei. Kurz darauf waren Motorgeräusche zu hören. Ein anderes Schiff. Eine verzerrte Lautsprecherstimme. Eine Patrouille der NAU. Es war aus.
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Niemand war sonderlich beunruhigt als es am 26.05.2017 nahezu flächendeckend in ganz Deutschland Schnee fiel. Das passierte zwar nicht oft, aber es passierte nun mal ab und zu. Außerdem waren die wenigen Zentimeter der weißen Pracht, die sich über Nacht angesammelt hatten, schon bald unter den warmen Strahlen der Frühlingssonne dahin geschmolzen. Eine Ausnahme. Eine Laune der Natur eben. Der warme und trockene Sommer ließ die Erinnerung an diesen Tag schon bald verblassen. Zu schön waren die lauen Abende, zu süffig das kühle Bier im Café um die Ecke. Zu schön anzusehen die jungen, leicht bekleideten Mädchen, die kichernd durch die Straßen flanierten. Hey ho! Lets go!
Erst als bereits am 25. September erneut einige Zentimeter Schnee in Süddeutschland fielen begannen die Menschen kopfschüttelnd zu fragen was denn nur mit diesem Wetter los sei. War nicht immer von globaler Erwärmung die Rede? Hitzerekorde – nun gut. Weihnachten bei 15°C – sei’s drum. Tornados und Hagelstürme – jajaja, meinetwegen. Daran hatte man sich gewöhnt. Aber Schnee im September?
Für den Moment konnten die Menschen aufatmen. Der Wintereinbruch dauerte glücklicherweise nur wenige Tage. Nach einer feuchten und kühlen Woche machte der goldene Oktober seinem Namen alle Ehre und verwöhnte die Menschen mit Sonne und Wärme. Allerdings hatte es der darauffolgende Winter bereits in sich. Von Anfang November bis Mitte März lag praktisch über ganz Mitteleuropa eine geschlossene Schneedecke. Während die einen schon Ende des Klimawandels verkündeten, sprachen die anderen von einer Ausnahme und verwiesen auf den Unterschied von Wetter und Klima. Und sie schienen Recht zu behalten. Frühjahr und Sommer 2018 waren guter Durchschnitt. Nicht zu kühl, nicht zu nass, keine Hitzerekorde oder Tornados, keine Dürren. Aber auch in diesem Jahr begann es schon Mitte Oktober zu schneien. Und es folgte ein Winter, wie ihn Europa schon Jahrzehnte nicht mehr erlebt hatte. In Frankreich und Spanien musste zeitweise der Notstand ausgerufen werden, nachdem innerhalb von 72 Stunden fast zwei Meter Schnee fielen. In Italien war Winterausrüstung Mangelware, was wochenlang den Verkehr praktisch zu Erliegen brachte. Auf den eisglatten Straßen war kein Durchkommen. In Osteuropa erfroren dutzende Menschen bei Temperaturen von minus 30 Grad und darunter. Durch Schnee und Eis fielen etliche Wind- und Solarkraftwerke aus, was wiederum zu häufigen Stromausfällen führte. Frierend und fluchend verkrochen sich die Menschen in ihren ungeheizten Wohnzimmern unter Decken und Schlafsäcken und sehnten den Frühling herbei. Doch ein Ende des Winters war auch im April noch nicht in Sicht. Ich träumte einst von einer Frühlingswiese.
Im Gegenteil: das Jahr 2019 ging als das „Jahr ohne Sommer“ in die Geschichtsbücher ein. Bis in den Mai hinein fiel in den Mittelgebirgen immer wieder Schnee. Die Flusstäler stöhnten während dessen über Dauerregen und Hochwasser. Landwirte und Tourismusverbände klagten gleichermaßen ihr Leid in jede Kamera. Die Spargel- und Erdbeerernte fiel komplett aus, Freibäder, Eisdielen und Restaurants fuhren ein gewaltiges Minus ein. Als schließlich bereits am 15. September ein Schneesturm über Norddeutschland tobte, sprach ein Meteorologe bei „Günther Jauch“ aus, was alle insgeheim dachten, aber keiner wagte auszusprechen. Undenkbar. Unvorstellbar. Unmöglich. Erwartungsgemäß erhob sich ein Sturm der Entrüstung, gefolgt von hitzigen Diskussionen auf allen Kanälen, an allen Stammtischen und in allen sozialen Netzwerken. „Die globale Klimasituation hat sich in den vergangenen 24 Monaten radikal geändert. Die solare Konvektionszone weist seit 2017 einen negativen Temperaturgradienten auf. Die koronale Aktivität der Sonne nahm dadurch um 37% ab. Eruptive Protuberanzen haben sich hingegen vervielfacht“. „Können Sie das für unsere Zuschauer in etwas einfacheren Worte erklären?“ bat Jauch. „Wir müssen uns sehr wahrscheinlich auf eine längere, kühle Periode einstellen.“ „Was bedeutet das konkret?“ hakte der Moderator nach. „Nun, alle Parameter deuten darauf hin, dass eine neue Eiszeit begonnen hat“.
Schon im Jahr 2025 taute der über den Winter gefallene Schnee in den höheren Lagen der Mittelgebirge auch im Sommer nicht mehr vollständig ab. Selbst in wärmeren Regionen wie dem Breisgau stiegen die Augusttemperaturen selten auf zweistellige Werte. Landwirtschaft, Weinbau und Tourismus brachen nahezu vollständig zusammen. Winterwonderland. Die Versorgung der Industrie mit Rohstoffen und Zulieferteilen war durch die Straßen- und Witterungsverhältnisse nur noch eingeschränkt möglich. Öffentlicher Nahverkehr und Bahn verkehrten nur unregelmäßig. Auf den Flüssen musste die Schifffahrt immer wieder wegen gefährlicher Eisschollen oder Hochwasser eingestellt werden. Stromausfälle wurden zur alltäglichen Belastungsprobe, Öl- und Benzinpreise erklommen im Wochentakt neue Höchststände. Internet und Telekommunikation fielen immer wieder aus. Das Brutto-Inlands-Produkt sank zwischen 2020 und 2030 um jährlich fast 10%. In gleichem Maße stieg die Zahl der Arbeitslosen.
Doch wo es Verlierer gibt, sind auch Gewinner. Die nordafrikanischen Staaten und der Nahe Osten erlebten in diesen Jahren einen wahren Boom. Auf Grund der verbesserten klimatischen Bedingungen wuchs die Landwirtschaft in den noch vor Kurzem knochentrocken Regionen rasant an. Libyen, Tunesien und Marokko waren auf dem Weg zur Kornkammer der Welt zu werden.
Schon Mitte der 20er Jahre setzte eine Wanderbewegung ein. Europäische Agrarexperten waren in Nordafrika heiß begehrt. Geld spielte keine Rolle. Die Staaten der EU und auch die USA zahlten für Getreide, Kartoffeln und Gemüse jeden Preis, um eine Hungersnot zu verhindern. Trotzdem verdoppelten sich die Preise für Grundnahrungsmittel nahezu jährlich.
Schon bald darauf begannen mehr und mehr Menschen, die auf Grund der anhaltenden tiefen Wirtschaftskrise in Europa dort keine Zukunft mehr sagen ihr Glück in Nordafrika zu versuchen. Aufgeschreckt von Simulationen, die die vollständige Vergletscherung Mitteleuropas bis 2100 prognostizieren, stieg ihre Zahl von Monat zu Monat. Waren anfangs besonders gut ausgebildete Facharbeiter mit offenen Armen begrüßt worden, so schwang das Pendel schon bald in die andere Richtung. Konservative und nationalistische Politiker in der gesamten, 2027 gegründeten Nordafrikanischen Union (NAU) sprachen davon, dass das Thema Migration aus Europa stärker reglementiert werden müsse.
Ab 2030 war eine Einreise für Europäer praktisch unmöglich. Der Flugverkehr war streng kontrolliert und die Flucht von Süditalien oder Sizilien über das noch eisfreie Mittelmeer war lebensgefährlich. Skrupellose Schlepperbanden scheffelten mit der illegalen Überfahrt von Flüchtlingen Millionen. Völlig überladene, schrottreife Kähne wurden trotz rauer See aufs offene Meer hinaus gejagt. Denn die Wucherpreise wurden selbstverständlich im Voraus bezahlt. Da kam es auf ein paar Tote mehr oder weniger nicht an. Niemand weiß wie viele Dänen, Franzosen, Polen oder Deutsche in diesen Jahren ertranken. Als die NAU ab 2025 nicht mehr davon zurückschreckte, illegale Flüchtlingsboote auch mit Waffengewalt zu stoppen verzehnfachten sich die Preise für eine Überfahrt. Trotzdem machten sich Hunderttausende auf den Weg Richtung Süditalien. Das Boot ist voll.
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Jetzt sitze ich also in diesem libyschen Abschiebegefängnis und harre meinem Schicksal. Man hat auf uns geschossen, man hat uns verhaftet und wie Schwerverbrecher in Ketten gelegt. Wärter spucken uns an oder schlagen uns grundlos ins Gesicht. Höhnisches Gelächter. Asoziales europäisches Gesindel. „Haut ab! Haut ab! Haut ab!“. Ich bin Mitte 40. Ich hatte einen guten Job, damals als es noch Jobs gab im alten Europa. Als man vom Fachkräftemangel sprach. Wie geht es weiter? Ich weiß es nicht. Sie werden uns markieren, uns einen Chip unter die Haut implantieren, der Alarm schlägt, sobald wir uns der Südgrenze der EU nähern. Wir werden getrackt wie Milchvieh. Unser Bewegungsprofil, unsere Vitaldaten sind in jedem Land, von jedem Dorfpolizisten abrufbar Doch das ist alles Blödsinn. Blinder Aktionismus. Hunderttausende Europäer haben schon so einen Chip implantiert. Doch sie wagen die Flucht wieder und wieder.
„Afrika ist groß genug für alle“ skandierten Millionen von Menschen auf einer großen Demonstration letzte Woche in Dakar. Sie reckten selbstgemalte Schilder in die Höhe auf denen „Refugees welcome“ und Ähnliches stand. Künstler, Literaten, Sozial- und Entwicklungshilfepolitiker aus 22 afrikanischen Staaten warben für mehr Menschlichkeit, für ein Miteinander der Kulturen und Kontinente. Musiker performen ihren Benefizsong „Save the children“, der bereits am Folgetag vier Millionen Mal verkauft wurde. Doch die Herrschenden halten sich bedeckt mit konkreten Zusagen oder Maßnahmen. Alle wissen sie, dass etwas geschehen muss, doch keiner wagt sich heraus, aus der komfortablen Deckung. Lieber sichern sie ihre Küsten mit Stacheldraht, GPS und Infrarotdrohnen. Faustpfand. Verhandlungsmasse.
Europa ist auf Jahre, wahrscheinlich auf Jahrhunderte hinaus ein verlorener Kontinent. Dort zu bleiben ist keine Option. Wer es sich leisten kann, der geht. Wer will den Menschen verdenken, dass sie nur ein besseres Leben für sich und ihre Familien suchen? Wer will ihnen verdenken, dass sie leben wollen? We are the world. We are the children.